Der Einzelhandel leidet seit Jahren unter der wachsenden Konkurrenz aus dem Internet. Umso verwunderlicher, dass gerade die Wirtschaftsforscher von der Fraunhofer SCS in Nürnberg unter die Ladenbesitzer gehen. Das „JOSEPHS“ in der Nürnberger Fußgängerzone ist ein offenes Labor, in dem die Forscher Mittel und Wege untersuchen, um Kunden zurück in die Innenstädte zu locken. Doch wie das geschehen soll, könnte die gesamte Branche auf den Kopf stellen.
Stefan steht an seinem Tresen und wartet. Er ist Abteilungsleiter eines Schreibwarenladens. Doch entgegen aller Hoffnung bleiben die Gänge und Kassen an diesem Samstagnachmittag leer. Dieses Bild ist leider kein Einzelfall, wie die Insolvenzen einstiger Platzhirsche wie Karstadt oder Praktiker zeigen. „Der Konkurrenz aus dem Internet ist kaum was entgegenzusetzen.“, erzählt Stefan auf die Frage, ob das immer so sei.
Welche Möglichkeiten gibt es also, um gegen einen Mitbewerber anzukommen, der weniger Kosten zu tragen hat und dank Datenhandel und Cookies seine Kundschaft besser kennt als der Ladenbesitzer seine Stammkunden?
Ein Rückblick
Es war Ende der achtziger Jahre, als die ersten großen Elektrofachmärkte begannen, sich in Deutschland anzusiedeln. Damals waren es die kleinen Radiogeschäfte, deren letztes Stündlein zu schlagen drohte. Es reichte fortan nicht mehr, blanke Waren anzubieten.
Was einst dem Fernsehgeschäft an der Ecke widerfuhr, droht heute den großen Handelsketten selbst. Denn seit Jahren stagnieren die Umsätze, während Online-Anbieter jährlich ein zweistelliges Wachstum verbuchen. Wie man mit dem neuen Marktbegleiter umgehen soll, bleibt weiterhin eine der großen Fragen dieser Branche. Antworten darauf suchten die Einzelhändler bisher in der direkten Konfrontation. Doch der Kampf fordert seine Opfer. So sind Dumpinglöhne und Entlassungen keine Seltenheit mehr.
Gerade wenn man Ladenbesitzer fragt, ob sie positiv in die Zukunft blicken, erfährt man eine gewisse Ratlosigkeit. Brachte technischer Fortschritt in Form des Internets diese Probleme mit sich, kann dieser nun vielleicht helfen, neue Wege zu beschreiten.
Forscher hinter der Theke
Auf die Suche nach neuen Ansätzen machen sich nun die Fraunhofer SCS und die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg. Mit dem JOSEPHS in der Nürnberger Innenstadt gehen die Forscher nun unter die Ladenbesitzer.
Gleich beim Betreten wird einem klar, dass von einem jungen Konzept die Rede ist. Denn wer alte Ladenatmosphäre sucht, wird sie nicht finden. Stattdessen grelle weiße Wände und bunte Beleuchtung. Die einzelnen Stationen sind auf runden Flächen errichtet worden, was mit seinem futuristischen Aussehen wohl ein Gefühl von Innovation vermitteln soll, und einen ein wenig an Raumschiff Enterprise erinnert.
An einem Tresen steht Heike Karg, die Projektleiterin des JOSEPHS. Nachdem sie für den online Riesen Amazon tätig war, wechselte sie in die Ladenatmosphäre zurück.
An den Stationen kann man sich nun selbst ein Bild davon machen, welche Neuerungen die Firmen zur Schau stellen. Ordentlich aufgereiht präsentieren die teils sehr jungen Unternehmen ihre Ideen, die wir eines Tages in der Fußgängerzone finden sollen. Das Anfassen und Ausprobieren ist hier allerdings ausdrücklich erwünscht.
Die Kunden kennenlernen
Was jedoch wie eine Zurschaustellung wirken mag, hat System. Denn das Fraunhofer IIS fährt schwere Geschütze auf, um den Probierlustigen über die Schulter zu sehen. Während die Daten des anfangs überreichten Tablet-Computers Aufschluss über Interessen geben, versuchen Kameras Alter und Geschlecht zu bestimmen. All das steckt noch in den Kinderschuhen, soll jedoch schon bald ein ausführliches Bild davon liefern, was die Besucher interessant fanden und was nicht.
Was jedoch moderne Elektronik nicht vermag, liefert hier ein simples und altmodisches Flipchart. „Was dort als Feedback der Kunden teilweise steht, ist unbezahlbar“, beschreibt Heike Karg die Erfolge der ersten Wochen.
„Denn Waren in ein Regal stellen kann jeder. Man muss dem Kunden heute schon ein wenig darüber hinaus bieten“. Dazu muss man seine Kundschaft auch kennen.
Auch wenn Kritiker oft beim Wort Datenerfassung Spionage vermuten, soll das laut Fraunhofer SCS nicht der Fall sein. Denn die erfassten Daten mögen zwar in mancher Menschen Augen sensibel sein, können jedoch unmöglich dieser Person zugeordnet werden.
All das macht den Anschein eines Versuches, das in Ansätzen auch offline zu nutzen, was im Internet mit Hilfe von Cookies und Datenhandel seit Jahren getan wird.
Ein Sandkasten für Ideen
Aber es geht nicht nur um das Verhalten der Kunden. So sollen auch Konzepte getestet werden, bei denen das Ladengeschäft einen Dienstleister des Versandhandels mimt.
An einer der sechs Stationen kann man beispielsweise mittels Kameratechnik seine Füße vermessen lassen. Diese Daten können dann auf einer Karte gespeichert werden und sollen so eines Tages das Einkaufen von Schuhen erleichtern. Das bietet Raum für Visionen. „Man könnte sich beispielsweise eine Ganzkörper-Vermessung vorstellen für eine virtuelle Umkleidekabine“ spekuliert Heike Karg, als sie gerade meine Füße vermisst. Werden wir also in Zukunft im Schuhladen nur noch einen Bildschirm vorfinden?
Ein anderes Beispiel für das Zusammenspiel der doch sehr verfeindeten Branchenteile Online- und Einzelhandel liefert eine Station, wie sie einfacher nicht sein könnte:
Ein weißer Tisch, ein Design-Barhocker und ein Computer zieren das Bild. Hier ist es möglich, Schmuck selbst zu gestalten. Dieser wird auch heute schon nach eigenen Wünschen angefertigt. In diesem Fall soll das Ladengeschäft zukünftig vielleicht als Schaufenster und Service-Station dienen.
Ein prominentes Beispiel für eine gelungene Fusion findet sich bereits heute in Form des online Versandhändlers Cyberport. Dieser eröffnete in den letzten Jahren mehrere Filialen in Einkaufszentren. Denn als Pionier dieser Marschrichtung möchte das Unternehmen so seine Vorteile als Online-Händler mit einem Vor-Ort-Angebot erweitern.
Es liegt am Kunden
Doch ob die Service-Manufaktur, wie sie sich selbst nennt, ihr Ziel erreicht, neue Wege für den Einzelhandel zu ebnen, hängt von der Akzeptanz der Besucher ab. Draußen vor dem Eingang steht Philip. Ein großer Mann Ende zwanzig. Nach seinem Besuch ist er geteilter Meinung. „Es war auf jeden Fall interessant, aber mit diesem Angebot kann ich persönlich nichts anfangen.“ Er will sich jedoch in sozialen Netzwerken über die nächste Themenwelt informieren. Davon macht er sein Wiederkommen abhängig. Das Ende der Innenstädte, wie wir sie kennen, ist vermutlich nicht aufzuhalten. Doch muss das nicht mit einem Aussterben einhergehen. Vielleicht erleben wir gerade eine Neuausrichtung und dürfen mit Spannung auf eine interessante Zukunft blicken. Dann steht Stephan bald vielleicht nicht mehr am Tresen, sondern hilft Kunden, ihre eigenen Stifte zu entwerfen.
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